EN

Das 38. Filmfestival 2024

Sámi Cinema – Stories from the North

Einen großen Fokus legte das 38. Braunschweig International Film Festival auf ein Volk aus dem Norden Europas: Etwa 140.000 Sam:innen leben im Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands und Russlands, das einzige in Europa als indigen anerkannte Volk. Die Sonderreihe Sámi Cinema – Stories from the North erzählte ihre Geschichte, eine Geschichte der Diskriminierung und Enteignung, aber auch des Zusammenhalts und des Widerstandes und letzten Endes der Emanzipation von der Mehrheitsgesellschaft. Welche Kämpfe sie teils bis heute ausfechten, konnte in einer sehr eindringlichen Kuration aus 8 Langfilmen und 5 Kurzfilmen gesehen werden, die in Zusammenarbeit mit dem International Sámi Film Institute (ISFI) ausgewählt wurden – allesamt Filme von samischen Regisseur:innen. „Schon seit geraumer Zeit entdecken wir bei Festivals vermehrt Filme von samischen Filmemacher:innen und waren begeistert von der Kraft dieser Geschichten. So stießen wir auf das International Sámi Film Institute und freuen uns sehr, dass wir mit ihnen gemeinsam diese Sonderreihe kuratieren durften“, berichtet Co-Festivalleiterin Karina Gauerhof. 

Blutsauger übernehmen Braunschweig

Auch wenn Halloween zum Start des Braunschweig International Film Festivals bereits einige Zeit zurücklag, wurde das Festival in diesem Jahr von Vampir:innen eingenommen. Dies wurde bereits zum Auftakt deutlich: Gemeinsam mit dem Staatsorchester Braunschweig präsentierte das BIFF mit BRAM STOKER’S DRACULA – LIVE IN CONCERT eine unvergessliche Deutschlandpremiere. 
Thematisch an das Eröffnungsfilmkonzert knüpfte die Filmreihe Vampires at Midnight. Seine für die Moderne prägende Form erhielt der Vampirmythos durch Bram Stokers Roman „Dracula“ (1897). Seither haben der untote Graf und seine filmischen Verwandten als Personifizierungen von Tod und Eros die Popkultur erobert und erleben aktuell eine Renaissance. So startet Anfang 2025 Robert Eggers' NOSFERATU-Neuverfilmung. Das BIFF zeigte unter anderem das Original von 1922 in einem atmosphärischen Stummfilmkonzert mit Orgelbegleitung durch den Weimarer Pianisten Richard Siedhoff in der Petrikirche und die Verfilmung von Werner Herzog auf der großen Leinwand. Ergänzt wurde die Reihe durch Kurzfilme, darunter THE SON OF DRACULA (1960), ein 8mm-Frühwerk des italienischen Kultregisseurs Corrado Farina, das erstmals außerhalb Italiens auf einer Kinoleinwand gezeigt wurde.

Ein Bösewicht mit großem Herz: Udo Kier erobert Braunschweigs Herzen

Der Die EUROPA-Preisträger des 38. Braunschweig International Film Festivals ist ebenfalls mit Vampiren engstens vertraut: Udo Kier spielte die Hauptrolle in ANDY WARHOLS DRACULA (1974) und verkörperte in SHADOW OF THE VAMPIRE (2000) den Filmarchitekten Albin Grau, eine Hommage an Murnaus Meisterwerk NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS. Kier, der in mehr als 280 Film- und Fernsehproduktionen mitwirkte, arbeitete mit renommierten Größen des Independent- und Arthouse-Kinos. Mit Andy Warhol drehte er ANDY WARHOLS DRACULA (1974), mit Rainer Werner Fassbinder DIE DRITTE GENERATION (1979). Auch Filme von Christoph Schlingensief und Lars von Trier sind eng mit Kiers einzigartigen Rollen verknüpft. In Hollywood gilt er als Meister der markanten Nebenrollen und hat sich einen Stern auf dem Walk of Fame verdient. In Windeseile eroberte der 80-Jährige die Herzen des Braunschweiger Festivalpublikums. Trotz zahlreicher Pressetermine fand er immer wieder Zeit für persönliche Gespräche, posierte bereitwillig für Fotos und bezauberte durch seine offene und lebensfrohe Ausstrahlung. Nach den Vorführungen seiner Filme nahm er sich zudem die Zeit, mit den Zuschauenden über seine Werke zu sprechen.

SUNLIGHT und BLOCK PASS gewinnen im Hauptwettbewerb

Der mit 10.000 Euro dotierte Volkswagen Financial Services Filmpreis ging an Claire Dix für den Film SUNLIGHT (Irland 2023). In ihrem Regiedebüt erzählt Claire Dix die Geschichte von Leon, einem cleanen Junkie und Daydreamer, sowie seinem todkranken Freund Iver. Am Tag von Ivers geplantem assistierten Selbstmord stellt Leon dessen Entscheidung infrage und nimmt ihn mit auf eine liebevolle Reise durch gemeinsame Erinnerungen und vertraute Orte in Dublin. Diese emotionale Pilgerreise wird zu einer zärtlichen Auseinandersetzung über den Wert des Lebens und die Entscheidungen, die wir am Ende unseres Weges treffen. Jurymitglied Reik Möller (Produzent der Senator Film Produktion GmbH) dazu: „Claire Dix’ Regiearbeit zeigt eine Feinfühligkeit, die die tiefe Verbundenheit ihrer Figuren authentisch zum Ausdruck bringt. Während Leon den festen Entschluss seines Freundes mit Widerstand und Mitgefühl herausfordert, balanciert der Film geschickt die Schwere des Themas mit leichten Momenten aus und zieht das Publikum in seinen Bann. Die differenzierten Darstellungen von Barry Ward und Liam Carney als Leon und Iver, vereinen einen besonderen Humor und eine tiefe Verletzlichkeit. Maureen Beatties Rolle als Maria, die Iver in seiner Entscheidung unterstützt, verleiht dem Film eine weitere Dimension und verkörpert einen menschlichen Zugang zu einem emotional aufgeladenen Thema.

 

Der ebenfalls mit 10.000 Euro dotierte Publikumspreis Der HEINRICH wurde an den französischen Regisseur Antoine Chevrollier für seinen Debütfilm BLOCK PASS (Frankreich 2024) verliehen. Ein Film über tiefe Freundschaft, Trauer, Wut und Homophobie im Umfeld des männlich dominierten Motocrosssports sowie die Suche nach dem eigenen Weg. Chevrollier, der selbst aus der im Film besprochen Kleinstadt an der Loire kommt, ist mit seinen begabten Hauptdarstellern ein starker Debütfilm gelungen, der in Cannes Weltpremiere feierte. Nun folgte die Auszeichnung in der Löwenstadt. „This means a lot for me. We had an amazing crew – we did all this for the audience“, bedankte sich Chevrollier. Und Angela Kleinhans, Leitung Interne Kommunikation und Sponsoring bei Volkswagen Financial Services, hob bei der Preisübergabe indes hervor: „Filme werden für Menschen gemacht – und genau deshalb gehören sie auf die große Leinwand.“

Heimspiel: Eine Auszeichnung für Mut und Entschlossenheit

„Mit diesem Preis ehren wir eine bedeutende Geschichte, und den Mut und die Entschlossenheit eines Teams, welches verstanden hat, was das Medium Film kann, und was es darf. Jetzt und in Zukunft.“ Mit diesen Worten bestärkte die Jury des Heimspiel Preises ihr Statement für den diesjährigen Gewinner. Er ging in diesem Jahr an den gebürtigen Braunschweiger Produzenten Martin Rohé für VENA (Deutschland 2024), den Film der Nachwuchsregisseurin Chiara Fleischhacker. „Wir sahen beeindruckende Bilder mit Blick fürs Detail, feinfühlige Regiearbeit, eine intensive Montage und eine präzise durchdachte Storyline, die Klischees bewusst verdrängte“, so Jurymitglied Vanessa Donelly. „Die Produktion war unglaublich schwierig und hatte viele Herausforderungen“, skizzierte Rohé am Abend.
 

Die TILDA für norwegisch-samische Regisseurin Sara Margrethe Oskal

Den mit 6.000 Euro dotierte Preis Die TILDA (Bester Film einer Regisseurin) nahm die norwegisch-samische Autorin, Schauspielerin, Künstlerin und Regisseurin Sara Margrethe Oskal mit nach Hause. Oskals Langfilmdebüt THE TUNDRA WITHIN ME (Norwegen 2023) war nicht nur einer der zehn Filme des Hauptwettbewerbs, sondern auch ein Beitrag des diesjährigen Schwerpunkts „Sámi Cinema – Stories from the North“. Große Authentizität gewinnt der Film durch die biografischen Hintergründe der Beteiligten: Wie die Regisseurin sind auch beide Hautpdarsteller:innen Sam:innen. Die preisgekrönte Performancekünstlerin und Dichterin Oskal hütete indes selbst zehn Jahre lang Rentiere. „Dieser Film wird aus einer indigenen, intersektionalen feministischen und Insider-Perspektive erzählt – und fasziniert durch sein kraftvolles, aber dennoch verletzliches Geschichtenerzählen und seinen meisterhaften Einsatz von bewegten Bildern, Ton und einem sensiblen Schnitt, der Raum für die Charaktere, ihre Subjektivität und die Landschaft lässt“, hieß es in der Jurybegründung.

Den Braunschweiger Filmpreis überreichte die Jury an Anja Plaschg für ihre Rolle in DES TEUFELS BAD (Österreich/Deutschland 2024). „Anja, du hast nicht nur eine Figur gespielt, sondern ein Stück menschlicher Erfahrung zum Leben erweckt. Deine Agnes hat uns inspiriert und dazu gebracht, eine Brücke zu schlagen, zur Stellung der Frau im 18. Jahrhundert und über Themen, wie gesellschaftliche Identität, Religion, Schmerz, Dunkelheit, Hoffnung, Vergebung und Licht im Hier und Jetzt nachzudenken“, schwärmte Anne Ratte-Polle (Schauspielerin) stellvertretend für die Jury. „Dieser Film war das intensivste Projekt in meinem bisherigen Berufsleben“, bestärkte Plaschg. 
 

ECHT: Filme, fernab von einfachen Antworten

Der queere Filmpreis ECHT wurde an die brasilianische Filmregisseurin Carolina Markowicz für TOLL (Brasilien/Portugal 2023) verliehen. Dazu die Begründung: „Ein leider noch – weltweit – aktuelles Thema, die Konversionstherapie, wird hier mutig, bildgewaltig und erstaunlich leicht erzählt. Die Regisseurin schafft es stilsicher, allen Figuren und Beziehungen eine Ambivalenz und Komplexität zu geben, die allzu leichtfertige Be- und Verurteilungen unmöglich machen und zwingt die Zuschauenden, sich auf einer tiefen Ebene mit den Nöten, Zwängen und der Lebenswirklichkeit einer alleinerziehenden Mutter und ihres queeren Sohnes im prekären Milieu auseinander zu setzen. Ein Film, der fernab von Simplifikation und einfachen Antworten, tief berührt und lange nachklingt.“ 

Der Deutsch-französische Jugendpreis KINEMA wurde an das Regieduo Pablo Cotten und Joseph Rozé des starken Debütfilms ETERNAL PLAYGROUND (Frankreich 2024) verliehen. Die aus sechs deutschen und französischen Schüler:innen bestehende Jury um Sarah Bellenger, Juliana Golubev, Hannah Heinert, Jascha Hermann, Amélie Jaupitre und Salomé Mangeon war sichtlich begeistert: „Ab der Eröffnungsszene konnten wir uns mit den Charakteren identifizieren. Die Freundschaft wurde durch viele Konfrontationen und Lachanfälle in der Gruppe authentisch dargestellt. Die breite Auswahl an angewandten Kameraeinstellungen führte uns durch sämtliche Emotionen.“
 

Cineastische Plädoyers für persönliche Verantwortung und Hoffnung

Kann ein Film das Leben verändern? Anregen, Impulse setzen und ermutigen möchten die Filme, die in der Reihe „Green Horizons“ zu sehen sind. Der damit verbundene, diesjährige Green Horizons Award wurde an Regisseur Blake McWilliam für SEND KELP! (Kanada 2023) verliehen. „Der Film besticht durch kraftvolle Bilder, die die fragile Schönheit des Meeres einfangen, und beleuchtet zugleich das emotionale Innenleben einer jungen Generation: Aus ihrem ‚Eco-Grief‘, ihrem Klima-Kummer, schöpft Frances neue Kraft, um aktiv einen Unterschied zu machen. SEND KELP! ist ein kraftvolles Plädoyer für Umweltschutz, persönliche Verantwortung und Hoffnung in einer sich wandelnden, krisengeplagten Welt“, führte die Jury in der Erläuterung zur Auszeichnung aus. „We hope that the film changed your mind“, brachte McWilliam sein Anliegen in der Danksagung auf den Punkt.

Über den Publikumspreis Die EDDA für den besten Kurzfilm durfte sich der iranisch-amerikanische Regisseur Liam LoPinto für THE OLD YOUNG CROW (Japan/USA 2023) freuen. In dem Werk reflektiert Mehrdad, inzwischen ein alter Mann, seine Kindheitserfahrungen in Tokio, wo er sich mit einer alten Japanerin anfreundete. Er blättert sein altes Skizzenbuch durch, das sich durch eine Kombination aus Animation und Live-Action in Bewegung setzt. „Be able to be seen by so many people means a lot to me“, erklärte LoPinto in seiner Videobotschaft.

EN