Das 33. Filmfestival 2019
Wo immer er auftauchte, wurde er mit Standing Ovations empfangen: Mario Adorf war der Star des Braunschweiger Filmfestivals! Das Festival ehrte ihn mit dem Hauptpreis „Die Europa“.
Den mit 20.000 Euro dotierten Preis stiftete der Hauptsponsor des Festivals Volkswagen Financial Services.
Mario Adorf und die" Europa"
Laudator Dominik Wessely, Regisseur der Doku „Es hätte schlimmer kommen können“, lobte Adorfs Fähigkeit, mit wenigen Strichen eine Figur entstehen zu lassen. „Es ist weites Spektrum, das dich als Schauspieler auszeichnet – von psychologische Charakterstudie, Gaunerkomödie, Actionkino und den historischen Politkrimi bis zum Alfred Matzerath und Klebstofffabrikanten Haffenloher – nie hast Du dich über Deine Figuren erhoben“, so Wessely. Für die Europa als Preis für herausragende darstellerische Leistungen und Verdienste um die europäische Filmkultur „wüsste ich keinen würdigeren Preisträger als Dich!“, schloss Wessely.
„Dass dieser Preis ausgerechnet „Europa“ heißt, hat für mich eine besondere Bedeutung. Ich bin ja schon von meiner Herkunft immer ein Europäer gewesen, als man noch gar nicht davon sprach“, bekannte Adorf, der ein Plädoyer für Europa anschloss: „Die ganz große Überraschung heute Abend war die Internationalität dieses Festivals. Hier zu sehen, insbesondere bei den Wettbewerbsfilmen, wie viele verschiedene europäische Mitarbeiter an den einzelnen Filmen beteiligt sind, das ist eine tolle Sache! Das ist das Europa, das wir wollen und erhalten müssen!“
Die besten europäischen Filme
Das Braunschweiger Publikum gab sein klares Bekenntnis zu Europa an der Kinokasse ab. Publikumslieblinge waren „I am lying now“ von Pawel Borowski, „A Clever Crook“ von Lucas Bernard sowie „The Best of Dorien B.“ von Anke Blondé, die den Publikumspreis „Der Heinrich“ für europäische Debüt- und Zweitfilme erhielt. Hauptdarstellerin Kim Snauwaert nahm den Preis entgegen, der wie neun der zehn Wettbewerbsfilme in Braunschweig seine Deutschlandpremiere feierte.
Den Volkwagen Financial Services Preis für den besten europäischen Film vergab die Jury an „In My Skin“ (Farming) von Adewale Akinnuoye-Agbaje. Die Jury mit Dr. Frank Woesthoff (Volkswagen Financial Services), dem französischen Elektro-Pop-Duo The Penelopes und der polnischen Regisseurin Olga Chajdas lobte die kineastische Energie von „In My Skin“ sowie „sein kräftig, anklagendes und genau gezeichnetes Bild. Ein komplexes Porträt des sich selbst Verlierens, der Einsamkeit und den Wurzeln von Wut und Grausamkeit. Eine moderne Geschichte einer vergessenen Vergangenheit, die mit sozialen und nationalen Stigmata kämpft, mit einer engagierten Besetzung und einzigartiger Erzählkunst.“
Beide Preise unterstützt Volkswagen Financial Services mit je 10.000 Euro.
Zwei Preise für Elke Margarete Lehrenkrauss
Gleich zwei Preise konnte Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss für ihre Doku „Lovemobil“ über Sexarbeiterinnen, die in Wohnmobilen an niedersächsischen Landstraßen arbeiten mit nach Hause nehmen: den neuen, mit 5.000 Euro dotierten Frauenfilmpreis „Die TILDA“ und den „Heimspiel“-Preis, der erstmals von Volkwagen Financial Services unterstützt wurde.
Die „TILDA“-Jury zeigte sich von einem Film der leisen Töne beeindruckt, „der sich Zeit nimmt und sehr private Einblicke in das Gefühlsleben der Protagonistinnen gewährt. Er lässt uns unmittelbar teilhaben an den Hoffnungen und Ängsten, der Einsamkeit und Verzweiflung der Frauen – eine erstaunliche Leistung, ermöglicht durch die dreijährige Drehzeit, in der sich das Filmteam mit Sensibilität und Respekt das Vertrauen der porträtierten Frauen erarbeitete. Ungewöhnlich für einen Dokumentarfilm ist, dass das Filmteam unsichtbar und vor allem unhörbar bleibt, doch dies gibt den porträtierten Frauen den Raum, ihre eigene Geschichte zu erzählen“. Die Jury des Frauenfilmpreises Prof. Heike Klippel (HBK Braunschweig), Frauke Korbmüller (Produzentin „Systemsprenger“), Joanna Łapińska (Transatlantyk Festival Łodź), Dr. Maxa Zoller (Internationales Frauenfilm Festival Dortmund | Köln) und Dr. Wiebke Westermeyer (eine der TILDA Stifterinnen).
Die Heimspiel-Jury urteilte: „Elke Margarete Lehrenkrauss schafft es, ihre Protagonistinnen würdevoll zu zeigen, indem die Kamera die Frauen nicht voyeuristisch, sondern diskret beobachtend begleitet. Dabei wird eine Authentizität erreicht, die vermuten lässt, dass die Frauen die Kamera gänzlich vergessen haben.
Queerer Filmpreis Niedersachsen für "Als wir tanzten"!
Die Jury des mit 5.000 Euro dotierten Queeren Filmpreises Niedersachsen entscheid sich für die georgisch-schwedische Produktion „Als wir tanzten“ von Levan Akin. „Akin zeigt uns mit präzisen und sensiblen Blick Schönheiten, die es zu bewundern gilt und Strukturen, die zu verändern sind. „Als wir tanzten“ feiert die Liebe, den Tanz und das Leben, und somit auch die Kultur und die Tradition Georgiens, aber am Ende eben auch die Rebellion und den Widerstand des Protagonisten gegen diese Traditionen“, so die Jury mit Christopher Kühne (Perlen Team Hannover), Lucie Veith (Netzwerkkoordinatorin für die Belange intergeschlechtlicher Menschen in Niedersachsen), Edith Ahmann (Geschäftsführerin Frauen- und MädchenGesundheitsZentrum Region Hannover e.V.), Mirja Janine Sachs (Vorstandsmitglied im QNN für den Bereich Trans*) und Jan Künemund (Medienwissenschaftler).
Braunschweiger Filmpreis geht an Max Hubacher
Für seine Verkörperung der Rolle des Jonas in „Der Läufer“ von Hannes Baumgartner erhielt Max Hubacher den mit 3.000 Euro dotierten „Braunschweiger Filmpreis“ als bester Newcomer Schauspieler. Max Hubacher „spielt diese komplexe Figur in einer Intensität und Ruhe, dass es einem fast die Sprache verschlägt“, so die Jury mit Elke Margarete Lehrenkrauss, Tim Seyfi und Dr. Ulrich Nehring. Sehr dosiert und mit hoher Sensibilität spiele Max Hubacher Jonas‘ zunehmenden Verlust jeglicher Kontrolle über sein Handeln und seinen Kampf dagegen. Das Monster, das er hier mit zutiefst menschlichen Zügen gezeichnet habe, lasse den Zuschauer – weit über den Film hinaus – lange nicht los, so die Jury.
Eine lobende Erwähnung vergab die Jury an Adelia-Constance Giovanni Ocleppo. „In „Pelikanblut“ gelingt es ihr in wenigen Momenten, so unheimlich präzise und präsent zu sein, dass das innere Drama ihrer Figur dem Zuschauer zum Greifen nah rückt. Wir wollen mehr von Dir sehen!“, so die Jury.
Der Green Horizons Award
Der mit 2.500 dotierten “Green Horizons Award” für den besten Film zum Thema Nachhaltigkeit ging an den französischen Filmemacher Martin Boudot. Seine Dokumentation „Green Warriors: Paraguay‘s Poisoned Fields” ist ein Film, der „uns die Augen öffnet, uns angeht, bewegt – und nachhaltig zum Nachdenken anregt.“, so die Jury mit der Regisseurin und Vorjahresgewinnerin Jasmin Herold („Dark Eden“), der Journalistin und Herausgeberin des „Grünen Kinohandbuchs“ Birgit Heidsiek und Roland Makulla, Umwelt-, Qualitäts- und Projektmanagement des Preisstifters oeding print GmbH.
Boudot untersucht in seinem Film die globale Soya-Produktions- und Vertriebskette. Bei seinen investigativen Recherchen in Paraguay bringt der Filmemacher in Erfahrung, dass auf den Soja-Plantagen giftige Substanzen versprüht werden, die in Europa schon längst nicht mehr zugelassen sind. Über die Nahrungskette landen sie auch dort auf den Tellern der Konsumenten. Von dem Anbau der Monokulturen, dem sogenannten „Paraguays Gold“, profitieren vor allem die Chemie-Konzerne und die weltweit agierenden Lebensmittel-Discounter. Martin Boudot dokumentiert nicht nur die Missstände, sondern beeinflusst als Aktivist maßgeblich das Handlungsgeschehen.
Sein Film ist erschütternd und zugleich ermutigend, denn er zeigt, dass Menschen etwas bewegen können, wenn sie sich gemeinsam gegen Unrecht auflehnen.“, so die Jury. „Green Warriors: Paraguay‘s Poisoned Fields” schärfe den Blick für komplexe Zusammenhänge: Die billigen Fleischprodukte haben einen hohen Preis – für die arme Landbevölkerung in Paraguay, aber auch für die Verbraucher in anderen Ländern.
Den Green Horizons Award unterstützt die oeding print gmhb.
KINEMA 2019
Eine Jury aus sechs Jugendlichen, drei aus Niedersachsen und drei aus der Normandie, vergab den Deutsch-Französischen Jugendpreis KINEMA. Sie kürten die deutsche Produktion „Mein Ende. Dein Anfang.“ von Mariko Minoguchi, in der Protagonistin Nora, einen schweren Schicksalsschlag erlebt, der ihren gewohnten Alltag durchkreuzt. Die Jury lobte besonders die puzzelartig verschachtelte Erzählweise, deren „Teilstücke sich erst im Kopf des Zuschauers zusammensetzen. Die Vielfalt der Charaktere ermöglicht es Jedem sich individuell mit der Handlung zu identifizieren. Der Zuschauer wird die ganze Zeit über von einer emotionalen Spannung eingenommen, in der Tod, Schmerz, Frust, Hoffnung und Humor zusammenspielen. Mariko Minoguchi Regiearbeit verändert die übliche Sichtweise auf Trauer, inspiriert zur Selbstreflexion und gibt Hoffnung in die Menschlichkeit“.
Ostdeutsche Perspektiven, Stummfilme und Helmut Zerlett
Mit dem Projekt „Spät-Vorstellung – 30 Jahre danach. Wende Flicks und mehr“ erinnerte das Filmfestival an die Wendezeit aus der ostdeutschen Perspektive. Das Projekt umfasste die Fotoausstellung „Meine LAST PICTURE SHOW“ mit Arbeiten des Regisseurs und Kameramanns Roland Gräf, die im Landesmuseum zu sehen war. DEFA-Legende Gräf hatte den Mauerfall 1989 auf dem Filmfest Braunschweig erlebt. Begleitet hatte ihn damals die Schauspielerin Jutta Wachowiak, die nun mit dem Theaterstück „Jutta Wachowiak erzählt Jurassic Park“ für zwei Vorstellungen nach Braunschweig zurückkehrte. Das Festival zeigte zudem eine sechsteilige Filmreihe aus den Jahren 1982-2018, zu der Gäste wie Andreas Kleinert (WEGE IN DIE NACHT), Heike Misselwitz (WINTER ADÉ) und Jochen Wisotzki (BERLIN – PRENZLAUER BERG) vorbeikamen.
Gemeinsam mit dem Staatsorchester Braunschweig präsentierte das Festival in der Musikfilmreihe „FxM – Film meets Music“ gleich drei Premieren. Zur Eröffnung leitete der britische Dirigent Andrew Berryman in der Stadthalle Braunschweig die deutsche Premiere des Filmkonzerts „Das Piano – Live-to-Film“.
Mit „Stories: Path of Destinies“ präsentierte das Festival zum ersten Mal ein Live-to-Game-Konzert, ein live von einem Orchester begleitetes Videospiel-Konzert.
Helmut Zerlett gewinnt „Weißen Löwen"
Stargast der Reihe war der Kölner Bandleader und Filmkomponist Helmut Zerlett, den das Festival mit dem „Weißen Löwen“ für sein Lebenswerk auszeichnete. Zerlett war eine Retrospektive mit acht seiner Filme gewidmet. In einem Porträtkonzert spielte Helmut Zerlett mit den „Akademix“, der Band der deutschen Filmakademie, unterstützt von Musikern des Staatsorchesters eine Auswahl von Suiten seiner Filmmusik, u.a. aus „Jerry Cotton“, „Haus der Krokodile“, „Vampirschwestern“ uam.
Im Scharoun Theater Wolfsburg dirigierte Helmut Imig das Filmorchester Babelsberg zur Vorstellung von „Ausgerechnet Wolkenkratzer!“ mit Harold Llyod mit dem Score des früheren Filmfestival-Gastes, des amerikanischen Dirigenten Carl Davis. Das französische DJ-Duo The Penelopes spielte live zum frisch restaurierten und rekonstruierten Stummfilm „The Home Maker“ aus dem Jahr 1925.
Die Kombination Kurzfilm und elektronische Filmmusik kennzeichnete die beiden letzten Filmkonzerte: Jakob Gardemann und Christoph Seelinger setzten Edgar Allan Poe in „Silent Poe“ ein filmmusikalisches Denkmal, während Patrick Müller und Wellenvorm eine experimentell-stumm-visuelle Reflexion über Literatur.
Panel talks, Show cases, Lectures – der zweitägige Industry Day deckte eine ganze Reihe von Branchenthemen ab: Block Chain, Trailerschnitt, Video Game Music bis hin zu Grüner Filmproduktion reichten die Beiträge, zu denen das Festival renommierte Experten wie Regisseurin Nicole Wegener, Rechtsanwalt Florian Glatz, Produzentin Frauke Korbmüller, Birgit Heidsiek uam. begrüßte.
Mit 27.500 Besuchern verzeichnete das Festival ebenso viele Zuschauer wie im Rekordjahr 2018. „Ein toller Erfolg“, freut sich Filmfestival-Vorstand Thorsten Rinke, „umso mehr, als uns weniger Kinoplätze zur Verfügung standen. Die Auslastung lag deutlich höher als im Vorjahr“.