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Interview mit Anne Lajla Utsi

Die Mitbegründerin und Geschäftsführerin des International Sámi Film Institute im Gespräch

Seit geraumer Zeit entdecken wir bei Festivals vermehrt Filme von samischen Filmemacher:innen und sind begeistert von der Kraft der Geschichten. Doch woher kommen diese Filme und wieso sehen wir plötzlich so viele? Das 2009 gegründete International Sámi Film Institute liefert Antworten und kuratierte gemeinsam mit dem BIFF die diesjährige Sonderreihe Sámi Cinema – Stories from the North.

 

Das International Sámi Film Institute wurde 2009 im norwegischen Kautokeino gegründet. Sie waren Mitbegründerin und es steht seitdem unter Ihrer Leitung. Für welche Werte steht das ISFI, worin sehen Sie seine wichtigsten Aufgaben und was kann es bewirken?

 

Das ISFI arbeitet an der Entwicklung der samischen Filmindustrie. Wir unterstützen samische Filmemacher:innen finanziell, bei der Produktion und dem Vertrieb ihrer Filme. Unser Ziel ist es, eine nachhaltige und innovative samische Filmindustrie zu schaffen, die weltweit sichtbar und attraktiv ist. Wir Sam:innen verstehen uns als ein Volk. Nationale Grenzen gibt es für uns nicht. Sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene arbeiten wir intensiv zusammen. Die Mitarbeiter des ISFI sind über ganz Sapmi verteilt, eine Region, die sich über die vier Länder Norwegen, Schweden, Finnland und Russland erstreckt. Die wichtigste Rolle des ISFI war und ist die einer traditionellen Feuerstelle, an der sich unsere Filmemacher:innen versammeln und wo ihre Geschichten in einer kreativen Atmosphäre Feuer fangen können.

 

In der traditionellen Kultur der Sam:innen, des einzigen indigenen Volkes Europas, gibt es viele Besonderheiten. Ein eher zyklisches als lineares Zeitverständnis, ein Denken jenseits nationalstaatlicher Grenzen, das sich mit dem traditionellen Siedlungsgebiet Sápmi an den Wanderungen der Rentierherden orientiert, die Unterscheidung von acht verschiedenen Jahreszeiten. Welche Rolle können diese Werte in unseren Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel spielen?

 

Indigene Werte und Lebensweisen sind nach wie vor tief in einer Verbindung mit der Natur verwurzelt. Traditionelle Lebensgrundlagen wie Rentierzucht, Fischfang, Jagen und Sammeln unterstreichen eine respektvolle und nachhaltige Beziehung zur Natur. Für uns Sam:innen ist die Natur keine Ressource, die man nach Belieben ausbeuten kann. Sie ist lebendig, voller Geister, Tiere und Pflanzen und verdient Dankbarkeit. Wir nehmen nie mehr, als die Natur uns geben kann, und schätzen alles, was sie uns gibt.

 

Auch unsere Erzähltraditionen sind eng mit der Natur verbunden. Viele Figuren verkörpern die Geister des Wassers, der Seen, der Pflanzen, der Berge und sogar des Untergrunds. Mittels der Geschichten können wir mit der Natur in einen Dialog treten, sie lebendig und erlebbar machen. Das ist von entscheidender Bedeutung, um die Menschen an ihre Verbundenheit mit der Natur zu erinnern. In der westlichen Welt scheinen diese Werte in Vergessenheit geraten zu sein, was die Ausbeutung des Landes erleichtert.

 

Wie viele indigene Volker weltweit waren die Sam:innen lange Zeit einer fatalen staatlichen Assimilierungspolitik ausgesetzt. Kinder wurden ihren Familien gewaltsam entrissen, die Kultur und die Sprache wurden verboten oder unterdrückt, um nur einige der damit verbundenen Praktiken zu erwähnen. Welche Auswirkungen hat dies noch heute?

 

Der Schaden ist beträchtlich, und obwohl Bemühungen zur Behebung dieser Schäden begonnen haben, liegt die Verantwortung größtenteils bei den Sam:innen selbst. In den letzten Jahren haben zwar alle nordischen Länder Wahrheits- und Versöhnungsprozesse eingeleitet, in denen die historischen Ungerechtigkeiten gegenüber dem samischen Volk anerkannt werden. Diese Prozesse bieten einen Hoffnungsschimmer, da sie darauf abzielen, das Unrecht der Vergangenheit aufzuarbeiten und den Weg für einen Wandel zu ebnen. Damit diese Initiativen jedoch effektiv sind, müssen sie durch strukturelle Veränderungen und finanzielle Hilfen für die Sam:innen unterstützt werden.

 

Im Kino werden Geschichten erzählt. Welche Bedeutung hat das Storytelling traditionell in der Kultur der Sam:innen und wie kann das moderne, zeitgenössische Medium Film daran anknüpfen?

 

Das Erzählen von Geschichten ist das Herzstück der samischen Kultur und war schon immer ein wichtiger Weg, um Wissen und Werte von einer Generation an die nächste weiterzugeben. Traditionell waren Geschichten nicht nur eine Form der Unterhaltung. Sie dienten als Mittel zur Vermittlung von Weisheit, kultureller Identität und der tiefen Verbundenheit mit der Natur. In diesen Geschichten kamen oft Figuren und Geister aus der Natur vor, was den Glauben der Sam:innen widerspiegelt, dass alle Elemente der Natur lebendig und miteinander verbunden sind.

 

Der Film ist ein starkes zeitgenössisches Medium, das diese Erzähltradition erweitern kann. Wir können so unsere Geschichten mit einem breiteren Publikum teilen, unser kulturelles Erbe bewahren und es gleichzeitig an neue Ausdrucksformen anpassen. Der Film ermöglicht es uns, unsere Geschichten auf eine Weise zu visualisieren und zu dramatisieren, die beim heutigen Publikum ankommt, sowohl innerhalb der samischen Gemeinschaft als auch darüber hinaus. Er kann unsere Mythen, Legenden und Alltagserfahrungen zum Leben erwecken und sicherstellen, dass unsere Kultur in der modernen Welt lebendig und relevant bleibt.

 

Überdies kann uns das Medium Film die erzählerische Souveränität geben – die Kontrolle darüber, wie unsere Geschichten erzählt werden. Dies ist besonders wichtig in einer Welt, in der indigene Geschichten von Außenstehenden oft an den Rand gedrängt oder falsch dargestellt werden, wodurch Stereotype oder Vorurteile verstärkt werden. Durch den Film können wir unsere Stimmen zurückgewinnen, Stereotype in Frage stellen und den Reichtum der samischen Kultur aus unserer eigenen Perspektive vermitteln. Die Medien entwickeln sich zwar weiter, aber die Bedeutung des Geschichtenerzählens bleibt für die Bewahrung und Stärkung der kulturellen Identität zeitlos.

 

In unserem diesjährigen Fokus Sami Cinema – Stories from the North zeigen wir mit PATHFINDER – DIE RACHE DES FAHRTENSUCHERS und JE‘VIDA zwei Filme, die sich besonders durch den Einsatz samischer Sprachen auszeichnen. Der seinerzeit für einen Oscar nominierte PATHFINDER war der erste auf Samisch gedrehte Film überhaupt. Welche Bedeutung hatte dieser Film für die Sam:innen und wie haben Sie persönlich sein Erscheinen erlebt?

 

Der Film PATHFINDER hatte 1987 im Kulturhaus meines Heimatdorfes Premiere. Damals war ich 14 Jahre alt. Meine Cousine und ich zogen unsere Gáktis an, die traditionelle samische Kleidung, und gingen zur Vorführung. Das Kino war voller Menschen in Gáktis. Inmitten des Publikums saßen der Regisseur und der Hauptdarsteller. Der Film begann. Die Hauptfigur Aigin rutschte in traditioneller samischer Winterkleidung die weißen Tundrahänge hinunter, während ein altes samisches Lied erklang. Ich erinnere mich an das intensive Gefühl, mein Volk – und mich selbst – zum ersten Mal auf einer riesigen Kinoleinwand zu sehen. Das waren wir!

 

Nach der Vorführung hatten wir Sterne in den Augen und unser Herz klopfte wie wild. Wir fühlten uns verändert, nachdem wir den Film gesehen hatten. Wir hatten einen neuen Stolz und eine neue Bewunderung für unsere Kultur und unser Volk. Es ist ein starkes Statement, die Geschichten unserer Ureinwohner auf die große Kinoleinwand zu bringen. Aufgrund unserer gemeinsamen Erfahrungen mit der Kolonisierung und der Rückeroberung entspringen indigene Filme dem Drang, unsere Kulturen und Sprachen auszudrücken und zu bewahren.

 

Die samischen Sprachen zeichnen sich durch einen besonderen Reichtum aus, der die spezifische Lebenswelt und ein ganz eigenes Weltwissen spiegelt. Zum Beispiel gibt es ungefähr 100 Wörter für Schnee. Leider sind einige samische Sprachen gefährdet. Der Verlust von Sprache bedeutet aber auch Verlust von lebendiger Vielfalt und kultureller Identität. Was muss getan werden, um dies zu verhindern?

 

Um die samischen Sprachen zu erhalten, ist eine koordinierte Rettungsaktion auf nationaler und nordischer Ebene dringend erforderlich. Die gesamte samische Gemeinschaft ist ständig mit einer chronischen Unterfinanzierung ihrer Kultur- und Bildungseinrichtungen konfrontiert. Viele von uns sind gezwungen, den anstrengenden Prozess der projektbezogen Finanzierung von Initiativen zu ertragen, die eigentlich dauerhaft finanziert werden sollten. Nur mit einer dauerhaften Basisfinanzierung mit besonderem Schwerpunkt auf der Unterstützung samischer Sprachinitiativen können wir uns auf die monumentale Aufgabe konzentrieren, unsere Sprachen zu bewahren.

 

Neben der traditionell nomadischen, durch das Rentier geprägten Lebensweise spielt auch der Joik, der spezifische Gesang der Sam:innen, in den Filmen unseres Specials immer wieder eine große Rolle. Wie könnte man diesen Gesangstil beschreiben?

 

Der Joik ist eine der ältesten lebenden Musiktraditionen in Europa und tief in der samischen Kultur verwurzelt. Es wird angenommen, dass sie Tausende von Jahren zurückreicht, was sie zu einer der ältesten kontinuierlichen musikalischen Praktiken des Kontinents macht. In seiner Form und seinem Zweck ist der Joik einzigartig und wird oft verwendet, um persönliche oder spirituelle Verbindungen zu Menschen, Tieren oder Landschaften auszudrucken, anstatt einfach eine Geschichte zu erzählen oder einer strukturierten Melodie zu folgen. Seine fortdauernde Präsenz in der samischen Kultur trotz aller Versuche, ihn zu unterdrucken, spricht für seine tiefe Bedeutung und Widerstandsfähigkeit.

 

Die Filme unseres diesjährigen Fokus wurden auffallend häufig von Regisseurinnen inszeniert bzw. erzählen Geschichten mit einem Fokus auf Frauen – im internationalen Vergleich ungewöhnlich. Ist das repräsentativ und wie kommt es zu diesem hohen Frauenanteil?

 

In der samischen Filmindustrie sind die meisten Regisseur:innen und Produzent:innen Frauen, eine Tendenz, die seit den Anfängen der Branche zu beobachten ist. Dies spiegelt ein breiteres Muster innerhalb der samischen Gesellschaft wider, in der Frauen oft Führungspositionen einnehmen. Beim ISFI legen wir großen Wert auf Gleichberechtigung und möchten daher mehr samische Manner für die Filmindustrie gewinnen, da ihre Stimmen und Geschichten ebenso wichtig sind. Eine mögliche Erklärung ist auch, dass traditionelle Erwerbszweige wie Rentierzucht, Fischerei und Landwirtschaft eher von Männern besetzt sind. Auch das höhere Bildungsniveau der Frauen konnte dazu beitragen, dass sie in der Filmindustrie stärker vertreten sind.

 

Etliche der von uns gezeigten Filme beschäftigen sich mit den Folgen staatlicher Assimilierungspolitik auf die Sam:innen und dem Verlust von kultureller Identität. Mittlerweile gibt es aber auch ein neues Selbstbewusstsein. THE TUNDRA WITHIN ME beispielsweise reflektiert die Beziehung junger Sam:innen mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen zueinander. Setzt das neue Zeichen? Wie sieht das samische Kino der Zukunft aus?

 

Ich sehe eine glänzende Zukunft für das samische Kino und für unser Volk. Wir haben unglaubliche und mutige Talente, starke Geschichten und eine wachsende Zahl junger Menschen, die in verschiedenen Rollen in die samische Filmindustrie einsteigen. Wenn der lang erwartete Tag kommt, auf den wir seit unseren Anfängen im Jahr 2009 hingearbeitet haben, und wir die narrative Souveränität über unsere Filme erlangen sowie ausreichende finanzielle Mittel, werden wir eine außergewöhnliche Vielfalt an Filmen verschiedener Genres erleben

 

Das Interview wurde geführt von Sigrid Weitemeyer und Beate Siegmann